Wer als Tourist nach Celle kommt, hat es nicht immer leicht – gerade in Sachen Orientierung. Es gehört zu den oft erzählten Anekdoten der Stadt, dass auswärtige Reisende, die sich vom Bahnhof aus in Richtung Altstadt bewegen, vor der nahegelegenen Justizvollzugsanstalt (JVA) verweilen, um dort die ersten Erinnerungsfotos zu schießen – in der falschen Annahme, das historische Eingangstor sei das berühmte Celler Herzogschloss.
Seit 300 Jahren gibt es die Anstaltskirche in der JVA Celle
Tatsächlich hat auch das Hochsicherheitsgefängnis in der Trift eine lange Geschichte. Circa 1710 mit der Erbauung begonnen, gilt es heute als Deutschlands ältestes Gefängnis, das noch in Funktion ist. Und nur elf Jahre nach dem Baubeginn der Haftanstalt wurde hier am 19. Juni 1721 der erste Gottesdienst gefeiert. „300 Jahre Kirche und Seelsorge“, sagt Jan Postel, Gefängnisseelsorger der JVA, „stehen für einen Freiheitsraum inmitten der Mauern, den Gottes Liebe und Vergebung ermöglichen.“ Nach verbüßter Haftstrafe wieder selbstverantwortlich leben zu können, findet der Pastor des Ev.-luth. Kirchenkreises Celle, beginne seit nunmehr drei Jahrhunderten für viele Gefangene mit einem Gebet in der Anstaltskirche und seelsorgerlicher Begleitung.
Um dieses besondere Jubiläum zu begehen, hat sich der Gefängnisseelsorger bereits im vergangenen Jahr gemeinsam mit dem Kunstmuseum Celle und den Verantwortlichen der JVA etwas Besonderes einfallen lassen. Die Celler kontaktierten den international renommierten Licht- und Videokünstler Philipp Geist, der u. a. bereits die Christusstatue von Rio de Janeiro und den königlichen Thron von Bangkok illuminierte und 2013 den Deutschen Lichtdesign-Preis in der Kategorie Lichtkunst erhielt. Die Idee: Geist für ein Projekt zu gewinnen, um den Freiheitsraum Anstaltskirche angemessen zu würdigen.
„Freiheit hat für die Inhaftierten natürlich eine ganz besondere Bedeutung"
„Ich fand die ganze Sache von Beginn an sehr spannend“, erzählt der in Berlin arbeitende Künstler Geist, für den die Arbeit mit einer Haftanstalt Neuland war. „Tatsächlich habe ich mal eine Installation in einem Gefängnis in Georgien gemacht, allerdings war dieses Gefängnis bereits nicht mehr in Betrieb und sollte zu einem Kulturzentrum umgewandelt werden.“
Geist fuhr nach Celle, besichtigte gemeinsam mit Jan Postel die JVA und definierte dann mit dem erfahrenen Gefängnisseelsorger das eigentliche Thema des Kunstprojekts. „Freiheit hat für die Inhaftierten natürlich eine ganz besondere Bedeutung, durch den Lockdown als Folge der Corona-Pandemie hat der Begriff ‚Freiheit‘ allerdings auch außerhalb von Gefängnismauern eine ganz andere Wertigkeit erhalten“, sagt Geist.
Mit Blick auf das historische Jubiläum der Anstaltskirche ergänzt Pastor Postel: „Das Projekt sollte zum Ausdruck bringen, dass die Kirche respektive die Seelsorge in der JVA Celle den Gefangenen kreative Freiräume dafür bietet, sich in ihrer Menschlichkeit zu entfalten.“
Um mit dem Kunstprojekt eine Brücke zu Menschen außerhalb der Gefängnismauern zu bauen, kam Videokünstler Geist auf die Idee, Schülerinnen und Schüler zu integrieren. Keine leichte Aufgabe, wie Jan Postel bei der Suche nach einer Partnerschule erfahren musste. Erfolg hatte er beim Kaiserin-Auguste-Viktoria-Gymnasium (KAV), wo sich Kunstlehrerin Bettina Schillat von der einmaligen Idee begeistern ließ und sechs Schülerinnen aus ihrem Grundkurs in der 11. Klasse für eine Zusammenarbeit motivieren konnte. Sechs Montage hintereinander trafen sich die Schülerinnen des KAV in der Anstaltskirche der JVA mit insgesamt neun Gefangenen, um dort gemeinsam das große Thema Freiheit zu diskutieren und künstlerisch zu gestalten.
„Das erste Mal war schon gewöhnungsbedürftig“, sagt Lehrerin Schillat, „die Sicherheitsvorkehrungen sind immens und können einen unbedarften Besucher zunächst durchaus einschüchtern.“ Doch schon nach dem ersten Aufeinandertreffen im Kirchengebäude sei für ihre Schülerinnen die besondere Atmosphäre spürbar geworden: „Alle haben sich darauf eingelassen, den Kirchenraum als das zu nutzen, was er ist: eine Begegnungsstätte für Menschen. Die künstlerische Arbeit außerhalb der schulischen Rahmenvorgaben haben meine Schülerinnen ebenso als außergewöhnliche Möglichkeit der Auseinandersetzung begriffen wie den Austausch mit den Gefangenen.“
Die wiederum hätten nicht nur von ihrem Leben in der Haftanstalt erzählt, sondern sich auch besondere Mühe gegeben, die Besucherinnen willkommen zu heißen: mit selbstgebackenem Kuchen und Tee – vor allem aber mit Dankbarkeit, sich inmitten der Welt eines Hochsicherheitsgefängnisses mit einem solchen Kunstprojekt zu befassen.
Zitat eines Inhaftierten: „Heute war ein guter Tag“
Auch Jan Postel zeigt sich bewegt von den mehrwöchigen Treffen zwischen Schülerinnen und Inhaftierten: „In der Gefängnisseelsorge geht es uns darum, Räume für die Gefangenen zu schaffen, wo sie sich selbst erleben und sich ausdrücken können. Und gerade die gemeinsame Arbeit und die vielen vertrauensvollen Gespräche haben das auf eindrucksvolle Weise möglich gemacht.“
Er erinnert sich besonders gerne an zwei Reaktionen: „Eine der Schülerinnen sagte den schönen Satz zu mir: ‚Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich in einem Gefängnis war‘. Und als ich einen der Gefangenen nach einem der Treffen fragte, wie es ihm denn gefallen habe, antwortete der: ‚Heute war einfach ein guter Tag‘. Schon allein dafür hat sich das ganze Projekt gelohnt.“
Die Begegnungen zwischen Schüler*innen und Inhaftierten ist schon wieder mehr als ein Jahr her. Eigentlich hatte es am 11. Dezember 2021 zum großen Höhepunkt dieses besonderen Projekts kommen sollen: die Ergebnisse des kreativen Austausches verarbeitet zu einer spektakulären Lichtkunstshow, projiziert an die Fassade der historischen Anstaltskirche im Südhof. Doch dann türmte sich die nächste Infektionswelle auf und die Verantwortlichen entschieden sich, das Projekt zu verschieben.
Ein Jahr lang haben alle Beteiligten warten müssen, am 10. und 11. Dezember 2022 ist es soweit – das Lichtkunstprojekt kann endlich seinen würdigen Abschluss bekommen. An beiden Tagen wird es außerdem einen Weihnachtsmarkt geben. „Hier können Besucher*innen eine Vielzahl an Produkten aus den Werkstätten der JVA Celle zu attraktiven Preisen erwerben“, sagt Linda Holexa von der JVA. Der Weihnachtsmarkt ist am Samstag, den 10. Dezember von 14 bis 21 Uhr und am Sonntag, den 11. Dezember von 14 bis 19 Uhr geöffnet.
Die Präsentation der spektakulären Licht- und Videoprojektion beginnt am Samstag um 17 Uhr. Um 19:15 Uhr wird es eine Feierstunde mit geladenen Gästen geben, bis 21 Uhr wird allen Besucher*innen das Betreten des historischen Hofes möglich sein. Am Sonntag ist das Lichtkunstprojekt von 17 bis 21 Uhr zu bewundern.
Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist die Freiheit
Initiator Jan Postel ist gespannt, wie Künstler Philipp Geist die Werke zum Thema Freiheit in seiner Installation verarbeiten wird, die er ihm in Berlin persönlich überreicht hat: „Das ganze Projekt steht unter der Verheißung ‚Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist die Freiheit‘. Und genau dieser Geist hat sich bei den Treffen zwischen Schülerinnen und Gefangenen gezeigt.“ Auch Lehrerin Bettina Schillat vom KAV-Gymnasium kann die Präsentation kaum erwarten: „Die Pandemie hat auch den Schülerinnen und Schülern vor Augen geführt, wie nahe wir Menschen uns sind, wenn es um den Begriff der Freiheit geht. Ich freue mich auf das Ergebnis.“
Das liegt in den erfahrenen Händen von Philipp Geist, der die in der Celler JVA entstandenen Bilder zunächst detailliert abfotografiert hat, um daraus eine animierte Collage zu entwerfen, „in der die verschiedenen Ideen, Farben, Formen und Strukturen letztlich zu einem Kaleidoskop der Elemente ineinander verflochten werden“. Künstlerische Freiheit, selten wurde sie so deutlich, wie bei diesem außergewöhnlichen Projekt.
Für die Verantwortlichen blieb noch die Frage, ob so eine Lichtershow in Zeiten von hohen Energiekosten das richtige Zeichen sendet. Doch nach Absprache mit Philipp Geist, der extra auf besonders energiesparende Technik setzt, entschied man sich die Veranstaltung stattfinden zu lassen.