Interview mit Wolfram Möller, dem scheidenden Leiter des Evangelischen Beratungszentrums
Mehr als drei Jahrzehnte war Wolfram Möller Mitarbeiter des Evangelischen Beratungszentrums. Hier erzählt er von schwierigen Fällen, entscheidenden Entwicklungen und warum Empathie und Toleranz so wichtig sind.
Wolfram Möller, was wollten Sie werden, als Sie noch ein Kind waren?
Wolfram Möller: Oh, das wusste ich erst sehr viel später, genauer gesagt während meines Studiums auf der Fachhochschule Hannover. Das Fach Sozialwesen war ein ziemlich wildes Durcheinander: Jugendarbeit, Gemeinwesen, Einzelfallhilfe, Sozialethik… Aber ich stellte fest, dass ich mich in diesen Bereichen wohl fühlte. Und außerdem genoss ich es, das erste Mal alleine zu wohnen. Hannover war dafür der richtige Ort. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich bald meine Liebe zu 96 entdeckte und fortan mit meinen Kommilitonen im Niedersachsenstadion zu Hause war. Erstes Spiel: 3:0-Sieg gegen den OSV Hannover. So was vergisst man ja nicht.
Welche Rolle hat die Kirche in Ihrer Familie gespielt?
Ich bin 1956 im nordhessischen Korbach geboren, mein Bruder war acht Jahre älter, und als ich zehn Jahre alt wurde, nahm meine Mutter einen Job in der örtlichen Molkerei an – vermutlich war sie damit die erste Frau in unserer Straße, die arbeiten ging. Wir waren alle Mitglieder der evangelischen Gemeinde, aber der Glaube hat bei uns keine besondere Rolle gespielt. Ich fand erst über die Konfirmation zur Kirche. Als Mitglied der evangelischen Jugend gründeten wir einen Arbeitskreis zum Thema Dritte Welt, diskutierten über soziale Ungerechtigkeiten und verkauften Dritte-Welt-Produkte in der Innenstadt, um die Menschen für dieses Thema zu sensibilisieren. Kirche war für mich auch Unterwegssein: Ich war bei vielen Freizeiten dabei, oft auch in anderen europäischen Ländern. Meinen Eltern war das immer sehr wichtig. Mein Vater, der als Soldat im 2. Weltkrieg aktiv gewesen war, pflegte zu sagen: „Ich habe diese Länder nur im Kriegszustand gesehen, meine Kinder sollen sie im Frieden kennenlernen.“
Wenn Sie im Dezember in den Ruhestand gehen, endet eine mehr als drei Jahrzehnte andauernde Arbeit in der evangelischen Beratung – wann entdeckten Sie, dass Sie in diesem Bereich genau richtig waren?
Das war ein langsamer Prozess. In meiner Diplomarbeit ging es um die Möglichkeiten des Sozialarbeiters im Umgang mit suizidgefährdeten Alkoholikern. Das hatte sich aus einem Rollenspiel ergeben, wo ich feststellte, wie viel Macht jemand hat, wenn er oder sie mit einem Suizid droht. Das ging schon in Richtung Einzelfallbetrachtung. Mein Anerkennungsjahr habe ich in der damals noch so genannten Nervenklinik Langenhagen absolviert – auf der Alkoholikerstation. Da standen wiederum die Gruppenarbeit und Sozialarbeit im Vordergrund: Wohnungen suchen, Arbeitsplätze beschaffen, Klinikplätze vermitteln. Gleichzeitig ging es auch schon um den beratenden Bereich. Das waren die Anfänge.
Wie kommt man als junger und erfahrener Mensch damit klar, wenn man mit solchen individuellen Schicksalen zu tun hat?
Den typischen Theorie-Praxis-Schock musste auch ich überstehen. Als junger Sozialpädagoge tritt man natürlich an, um die Welt zu retten. Man will edel, hilfreich und gut sein. So geht man in die Arbeit und entlässt nicht ohne Stolz einen scheinbar geläuterten Suchtpatienten, der Stein und Bein schwört, nie wieder zu konsumieren. Und am Abend ist er wieder da und muss erstmal ausgenüchtert werden. Die Realität zu akzeptieren ist schwierig und notwendig. Eine sehr wichtige Erkenntnis: Man kann Menschen nur helfen, die sich auch helfen lassen wollen.
Diese Erfahrungen sammelten Sie dann in Hannover?
Ich bekam zunächst ein paar Stunden im Stadtverband für Innere Mission, dem heutigen Diakonischen Werk in der Burgstraße. Damals musste man als Sozialarbeiter froh sein über jedes Jobangebot. Die sozialpädagogische Familienhilfe befand sich gerade im Aufbau. Was sich viele Jahre lang durch mein Berufsleben gezogen hat, nahm da seinen Anfang. Nämlich, dass ich als Mann unter vielen Frauen ein Exot war. Zum Glück haben mich die Kolleginnen schnell akzeptiert; ich bekam immer mehr Stunden und irgendwann eine Festanstellung. Diese Aufgabe hat mir sehr viel Freude bereitet. In den vergangenen Jahren habe ich viele Kolleginnen und Kollegen aus diesem Arbeitsbereich als Supervisor begleitet und habe einen großen Respekt vor ihren Leistungen. In die Familien gehen, um direkt vor Ort an positiven Veränderungen zu arbeiten, ist ein ganz toller Job!
Wie ging es für Sie weiter?
Gemeinsam mit einer Kollegin begann ich einige Zeit später eine Familientherapieausbildung und fuhr dafür regelmäßig nach Hessen. Das Erlernte wollte ich auch anwenden, doch das war damals mit der Arbeit als sozialpädagogischer Familienhelfer nicht zu vereinbaren. Letztlich entschied ich mich für die Beratung, weil das für mich eine neue Herausforderung war. Auch deshalb, weil man sich in der Ausbildung auch mit der Aufarbeitung der blinden Flecke in der eigenen Vita auseinandersetzen muss.
Was stellten Sie da fest?
Woher meine Aversionen gegen die Schule stammten. Mein Vater, Jahrgang 1915, wäre gerne auf eine weiterführende Schule gegangen, durfte aber nicht, weil das nicht in das Bild seiner Eltern passte. Mit 18 wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Deshalb war es ihm sehr wichtig, dass es seine Kinder später in dieser Hinsicht mal besser haben, wir also unbedingt unser Abitur machen sollten. Zum Gymnasium ging ich nicht für mich, sondern für meinen Vater. Und deshalb konnte mein Verhältnis zur Schule nur scheitern; bis zum Abitur bin ich gar nicht gekommen. Die Fachhochschulreife erlangte ich mit der Versetzung in die Klasse 13 und einem einjährigen Praktikum in einer evangelischen Kita.
Wie gelangten Sie schließlich nach Celle?
Ich suchte gezielt nach Beratungsstellen und tatsächlich war in Celle ein solcher Posten frei. Ich bewarb mich bei der damals noch so genannten Lebensberatungsstelle für Jugend, Ehe und Familie und wurde dort zu meinem Glück eingestellt.
Wieder die Frage: Welche Rolle spielte dabei die Kirche als Träger des Beratungszentrums?
Als junger Mensch habe ich darauf schlicht und einfach geantwortet: Weil es die ersten waren, die mich genommen haben. Heute bewerte ich das anders. Die Kirche an sich spielt in unserer täglichen Arbeit nicht immer eine Hauptrolle, ist aber gleichzeitig Überbau und Grundlage zugleich. Einer meiner Vorgänger hat mal gesagt: „Unsere Grundhaltung ist, dass wir Religiosität nicht als Neurose bewerten.“ Aber im Ernst: Zu unserem christlichen Menschenbild gehört, dass wir niemanden bewerten, kritisieren oder vorverurteilen. Wer das Beratungszentrum aufsucht, soll zunächst mal einen Ort vorfinden, wo er sich angenommen fühlt.
Im Dezember werden Sie nach 33 Jahren im Dienst verabschiedet. Wie hat sich das Beratungszentrum in dieser Zeit entwickelt?
Als ich anfing, hatten wir - bei unterschiedlichen Grundprofessionen - eine insgesamt klar tiefenpsychologische Ausrichtung in der Beratungsarbeit. In den vergangenen Jahren haben wir unsere Sichtweisen erweitert. Das bedeutet mehr Vielfalt, Multiprofessionalität und unterschiedliche Ansätze. Hatten wir früher die Idee, zu wissen, was unsere Kundinnen und Kunden brauchen, formulieren wir heute zu Beginn eines Beratungsprozesses gemeinsam mit den Ratsuchenden genaue Ziele, an denen wir dann arbeiten. Und das empfinde ich als sehr positive Entwicklung.
Können Sie dafür ein Beispiel aus der Praxis geben?
Am ehesten lässt sich das in der Paarberatung beobachten. Da bin ich zu Beginn meiner Tätigkeit vom eigenen Idealbild in einer Beziehung ausgegangen und wenn man das macht, gerät man schnell in Versuchung, das auf andere zu übertragen. Aber jeder Mensch und jede Beziehung ist verschieden. Also musste ich lernen, mich von meinen eingefahrenen Vorstellungen zu trennen. Oder nehmen sie die Sexualberatung. Vor 30 Jahren war ganz klar: Der Mann will, die Frau nicht. Auch da hat sich die Sichtweise und auch die Lebensrealität verändert. Die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensmodelle ist viel höher. Wenn ein Paar 30 Jahre lang keinen Sex hat, dann kann das genauso gut funktionieren, wie bei anderen, die täglich miteinander schlafen. Es ist nicht unsere Aufgabe, das eine oder das andere zu bewerten und zu sagen, was gut oder was schlecht ist.
Was benötigt man, um als Berater seinen Job zu machen?
Empathie ist das A und O. Und man muss lernen, sich abzugrenzen, die Fälle nicht mit nach Hause zu nehmen. Denn dann ist man nicht mehr arbeitsfähig. Am Anfang habe ich diesen Fehler oft gemacht. Ich bin sehr dankbar, dass der Träger uns seit jeher interne Supervisionen ermöglicht, damit wir uns austauschen können, uns gegenseitig entlasten und so das Arbeitsklima verbessern.
Wie sehen Ihre Pläne für das Rentnerdasein aus?
Ich habe diesen Job mit Leidenschaft gemacht, aber jetzt nehme ich den Ruhestand auch gerne an. Ich bin froh darüber, dass es momentan wieder selbstverständlicher wird, zu reisen, denn meine Frau und ich möchten weiterhin die Welt erkunden. Außerdem werde ich mehr Zeit für eigene sportliche Aktivitäten haben. Ich werde aber auch freiberuflich weiterhin Supervisionen anbieten, zum Beispiel, wie in den letzten 25 Jahren auch, im Bereich der Hospizarbeit. Der Unterschied wird sein, dass ich für mich selbst entscheiden kann, in welchem Umfang ich weiterhin tätig sein will. Jetzt hoffe ich erstmal darauf, dass sich bald eine Nachfolgerin bzw. ein Nachfolger für meinen Posten findet – denn diese spannende und tolle Stelle ist leider noch nicht neu besetzt.