„Das ist für mich gelebte Nächstenliebe“

Nachricht 10. Februar 2025

Ein Vierteljahrhundert lang war er das Gesicht am Harburger Berg. Nach mehr als 40 Jahren in der Drogenberatung ist Sozialarbeiter Klaus Törkel jetzt in Rente gegangen. Ein Gespräch über die ersten Erfahrungen mit Heroin, einem Pioniersprojekt in Celle und den Einfluss diakonischer Arbeit im Umgang mit suchtkranken Menschen.

 

Klaus Törkel, wenn einer nach mehr als 40 Berufsjahren in der Drogenberatung und Arbeit mit Abhängigen in die verdiente Rente geht, muss man diese erste Frage stellen: Wann und wie hat das alles angefangen?
Klaus Törkel: Ich bin geboren und aufgewachsen in Dinslaken, einer Kreisstadt von der Größe Celles, nur circa 60 Kilometer von der niederländischen Grenze entfernt und damals eine Haupteinflugschneise für Heroin. 1977 absolvierte ich ein Praktikum in der Drogenberatungsstelle im nahen Wesel, eine Vorleistung für das geplante Sozialarbeit-Studium.

Warum ausgerechnet die Drogenberatungsstelle?
Ein guter Freund von mir, der später heroinabhängig wurde, brachte mich auf den Gedanken. Heroin war damals noch sehr teuer und hatte in der Regel einen hohen Reinheitsgehalt. Die Konsumgewohnheiten waren anders als heute, nahezu jeder Patient konsumierte Heroin intravenös, also mit einer Spritze. Weil man das Heroin so schlecht dosieren konnte, gab es auch in Deutschland sehr viele Unfälle und Drogentote.

Wie muss man sich diese Beratungsstelle damals in Wesel vorstellen?
Wir waren mit unserer offenen Kontaktarbeit in einer alten Zitadelle untergebracht, die Räume strahlten die gemütliche Atmosphäre der siebziger Jahre aus. Es lief Musik, Räucherstäbchen brannten, es gab heißen Tee. So hatten wir auf eine sehr niedrigschwellige Art Gelegenheit, Kontakt zu den Klienten aufzubauen. Ich erinnere mich an einen Kollegen, einen trockenen Alkoholiker, der ein starkes Sendungsbewusstsein hatte, die Leute von den Drogen wegzubringen und eng mit Selbsthilfegruppen vernetzt war. Es gab dadurch viele Möglichkeiten der Unterstützung der Klienten. Ich war schnell fasziniert von dieser Tätigkeit – und das braucht man auch für die Arbeit mit Drogenabhängigen.

Haben Sie sich auch im Studium darauf konzentriert?
Von 1979 bis 1982 studierte ich in Hagen soziale Arbeit und arbeitete nebenbei für ein Projekt, das lebenslang Verurteilte in der JVA Schwerte betreute. Da waren Drogen auch immer ein Thema.

Was hat Sie ausgerechnet an diesem Arbeitsfeld fasziniert?
Ich habe mich immer als Mittler betrachtet, als jemand, der Menschen mit Empathie begegnet und ihnen die Möglichkeiten aufzeigt, sich Hilfe zu holen oder sich selbst zu helfen. Dafür braucht man auf jeden Fall Geduld und einen langen Atem: Menschen auch dann noch eine Chance zu geben, wenn sie bereits zwei, drei oder vier Chancen vertan haben.

Wie hat es Sie schließlich nach Celle verschlagen?
Ich bewarb mich bundesweit für mein Anerkennungsjahr und bekam eines Abends gegen 22 Uhr das Angebot, mich am nächsten Tag um 16 Uhr im Diakonischen Werk Hannover vorzustellen. Es war bereits Ende Oktober 1983, am 15. November sollte ich in Celle starten. Weil es in der kurzen Zeit unmöglich war, eine Wohnung zu bekommen, verbrachte ich den ersten Celler Winter in einem Wohnwagen auf dem Campingplatz am Silbersee.

Wie sah die Celler Drogenberatung Anfang der achtziger Jahre aus?
Unsere Beratungsstelle war in der Hehlentorstraße 20 untergebracht. Anders als in Wesel fand der Konsum in Celle hinter den Fassaden also verdeckt statt. Eine offene Drogenszene gab es nicht, auch keine bestimmten Orte oder Plätze, wo verkauft wurde. Deshalb brauchte es seine Zeit, bis ich Zugang zu den Menschen fand und verstand, wie die unterschiedlichen Mechanismen funktionierten. In meinem ersten Jahr hatte ich vorrangig mit der Arbeit mit Alkoholkranken zu tun, meine Anleiterin arbeitete in diesem Bereich. Eine richtige Leitung der Beratungsstelle gab es nicht, also kümmerte ich mich noch während meines Anerkennungsjahres selbst um einen Job – durch Verhandlungen mit dem Sozialministerium. Damals war gerade ein neues Bundesmodell aus der Taufe gehoben worden: Aufsuchende Sozialarbeit für betäubungsmittelabhängige Straftäter. Die Idee dahinter: Therapie statt Strafe. Jeder Tag Therapie wurde auf einen Tag im Gefängnis angerechnet bis zu 75 Prozent der Gesamtstrafe. Das war ein probates Mittel, um erstens die überfüllten Gefängnisse zu leeren und zweitens den Abhängigen eine effektive Hilfe anzubieten. Das wurde meine Aufgabe, sowohl in der JVA Celle I als auch in Salinenmoor.

Diese Aufgabe dürfte nicht ganz einfach gewesen sein.
Es war auf jeden Fall eine spannende Zeit. Man spürte noch die Nachwirkungen des Skandals rund um das „Celler Loch“ und ein normaler Arbeitsplatz war das natürlich auch nicht. Es galt, die Motivation meiner Klienten zu prüfen. Wollten sie mich nur als Reisebüroleiter in die Freiheit nutzen oder waren sie ehrlich daran interessiert, sich auf eine Therapie einzulassen? Wenn sie tatsächlich eine Therapie machen wollten, wurden Gespräche geführt, Akten eingesehen, Ziele formuliert, Therapieformen überlegt, Kostenträger gesucht. Einen Teil dieser Aufgaben habe ich ebenfalls in der Beratungsstelle übernommen.

Wie arbeiteten Sie in der JVA?
Das Bundesmodell lief zwei Jahre. Dann gab es Probleme, dieses Modell in eine Planstelle zu verwandeln und weil ich nicht arbeitslos werden wollte, bewarb ich mich für ein anderes Bundesmodell: Streetwork mit weiblichen und männlichen Prostituierten in Hannover und Aufbau einer Aids-Beratungsstelle. HIV war damals ein großes Thema, die Angst vor dem Virus war allgegenwärtig. Nachts zogen wir durch das Rotlichtviertel am Steintor, sprachen mit Bordellwirtschaftern und Sexarbeiter*innen, um Kontakte in der Szene aufzubauen. In unserer Beratungsstelle führten wir tagsüber tausende Beratungen und Aids-Teste durch, klärten auf, verteilten Kondome. 

Und wie landeten Sie schließlich wieder in Celle?
Am 1. Januar 1989 begann meine Arbeit als Streetworker in Celle, doch das Streetworking sah hier ganz anders aus als in Hannover. Ich hatte vorrangig mit jungen Drogenabhängigen zu tun, die bis zu ihrem 18. Lebensjahr in Einrichtungen für Kinder und Jugendliche gelebt hatten und nun wohnungslos waren, weil es keine Unterbringungsmöglichkeiten für sie gab. Parallel dazu erschien in der „Celleschen Zeitung“ ein Artikel, in dem sich die Jusos über das auf eine Stelle zusammengestrichene Streetworking beschwerten und eine zweite Stelle forderten. Mit mir oder uns hatte allerdings niemand vorher gesprochen. Also schrieb ich einen Leserbrief, in dem ich darauf aufmerksam machte, dass wir so eine zweite Stelle gar nicht bräuchten. Das öffnete mir wiederum die Türen zu den Jugendhilfeausschusssitzungen, weil jeder wissen wollte, warum ich eine personelle Verstärkung ablehnte und was wir stattdessen dringend bräuchten.

Was haben Sie den Politikerinnen und Politikern erklärt?
Dass wir eine Lösung finden müssten, um die prekäre Situation der jungen wohnungslosen Abhängigen zu verbessern. Ich schlug eine Unterkunft vor, in der man ganz niederschwellige Angebote umsetzen könnte. Ein urchristlicher Gedanke: Erstmal muss der Mensch ein Zuhause haben, um weitere Ideen für sein Leben zu entwickeln. Auf der Straße hat man dafür keine Zeit und Möglichkeiten. Da geht es einfach nur ums Überleben und den nächsten Schuss.

Tatsächlich ging dann alles sehr schnell.
Was unter anderem der damaligen Sozialdezernentin Sigrid Maier-Knapp-Herbst zu verdanken war, die es möglich machte, dass nur sechs Monate später die ersten Bewohner in das Haus am Harburger Berg einzogen. Uns stand nun ein Haus mit fünf Zimmern und zehn Betten in der ersten Etage zur Verfügung sowie im Erdgeschoss ein Tagescafé mit Billardtisch, Sofas und Stereoanlage.

Was war das Wesentliche an dieser neuen Aufgabe aus Ihrer Sicht?
Dass ich für und mit Menschen zusammenarbeiten durfte, die genauso wie ich auf flache Hierarchien Wert legten, Bürokratie klein schrieben und damit Chancen für kreative Ideen ermöglichten, um an die Bedürfnisse der Zeit und Menschen angepasste Projekte und Lösungen zu entwickeln. Der Harburger Berg war tatsächlich eines der ersten Häuser in ganz Deutschland ohne Clean-Anspruch. Nicht nur das: Es ließ sich nicht vermeiden, dass auch harte Drogen im Haus kursierten, rechtlich war das problematisch. Und trotzdem haben wir gerade von Seiten des Kirchenkreises immer volles Vertrauen genossen.

 

Wie haben Sie die Anfänge der Substitutionsarbeit am Harburger Berg in Erinnerung?
1993 wurde die Substitution wieder legal in Deutschland, nachdem es bereits Ende der siebziger Jahre erste Feldversuche gegeben hatte. Bis 1993 galt das Abstinenzparadigma: Hilfe für Süchtige ist nur dann richtig und legal, wenn der Betroffene wieder clean wird. Während in der Substitutionstherapie für einige Klienten die Abstinenz ein langfristiges Ziel ist, wird gleichzeitig durch die Dauersubstitution der Schaden für jeden minimiert und der Gesundheitszustand bzw. die soziale Situation der Klienten verbessert, auch wenn nicht eine dauerhafte Freiheit vom Beikonsum zu erreichen ist. 

Hatten Sie Probleme mit Gegnern der Substitutionstherapie?
Schwieriger war eher der organisatorische Aufwand. Für jeden Patienten musste erst ein einzelner Antrag an die Kassenärztliche Vereinigung gestellt werden; das fraß Zeit. Zum Glück fanden wir schnell Unterstützer von ärztlicher Seite. Der Internist Dr. Klaus Bunzel zeigte sich offen für das Thema, allerdings unter der Voraussetzung, die Substitutionen nicht in seiner Praxis und auch nur im Team durchzuführen. Dr. Bunzel fand in Dr. Jürgen Wolkewitz, Dr. Andreas Mercier, Dr. Jürgen Hübel und Dr. Henner Röver Mitstreiter, wir stellten die Räumlichkeiten.

Wie läuft so eine Substitutionstherapie ab?
Es gab und gibt bestimmte Voraussetzungen, um an so einer Therapie teilnehmen zu können. Damals musste man mindestens 18 Jahre alt sein, bereits seit mehreren Jahren heroinabhängig sein und mindestens eine stationäre Entzugstherapie durchlaufen haben. Das Substitutionsmedikament war damals Methadon, heute ist es L-Polamidon. einmal pro Tag wird das unter ärztlicher Aufsicht am Harburger Berg verabreicht.

Das klingt zunächst nach einer schnellen und wirksamen Lösung.
Der Suchtverlauf bei Heroin ist komplex. Patienten, Sozialarbeiter und Mediziner müssen Rückfälle einkalkulieren und lernen, dass man bei dieser Krankheit schon mit kleinen Erfolgen einen Fortschritt erzielt.

Warum wurde das Wohnprojekt Mitte der neunziger Jahre eingestellt?
Nach dem Abzug der britischen Soldaten 1996 wurden in Celle viele günstige Wohnungen frei, die Vermieter riefen sogar bei uns an, um für Mieter zu werben. Irgendwann war das Wohnprojekt nicht mehr nötig, stattdessen wurden die freien Räume vom Böttcherhaus besetzt, das Patienten aus stationärer Psychotherapie eine Art betreutes Wohnungen ermöglicht. Und aus unserem Tagescafé entstand schließlich die Essenszeit. 

In unmittelbarer Nähe zum Harburger Berg befinden sich die Ev.-luth. Kindertagesstätte „Kapellenberg“ und die Grundschule Hehlentor. Hat das nicht automatisch zu Spannungen geführt?
In der Hoch-Zeit der ersten Substitutionsphase haben wir pro Monat bis zu 2.000 Spritzen getauscht. Dass da auch mal eine in den Büschen oder im Mülleimer landete, war abzusehen. Als dann eine Spritze auf dem Spielplatz der Schule gefunden wurde, sorgte das natürlich für Aufregung und zog Elternabende und Schulkonferenzen nach sich. Aber auch diese Probleme konnten wir beseitigen, wie wir eigentlich in all den Jahren immer nach Lösungen gesucht und diese auch gefunden haben.

Was haben Sie persönlich in all den Jahren für sich gelernt?
Dass man in diesem Job, wie eben schon erwähnt, mit kleinschrittigen Erfolgen leben und denken muss. Darin liegt dann auch der Segen dieser Arbeit. Und selbst im vermeintlichen Misserfolg gab es immer Dinge, die wir für die zukünftige Arbeit lernen und nutzen konnten. Außerdem lernt man Geduld und einen langen Atem zu haben. Selbst wenn Patienten aus dem Therapieprojekt ausscheiden mussten, wurden sie zum Teil sechs Monate später erneut aufgenommen, um es erneut zu versuchen.

Nimmt man so eine Arbeit nicht auch mit nach Hause?
In den ersten Jahren konnte ich nie ganz abschalten, zumal ich nur 500 Meter entfernt vom Harburger Berg wohnte. Ich habe dieses Projekt gelebt und deshalb hat es aus meiner Sicht auch so gut funktioniert. Wir waren und sind 365 Tage im Jahr geöffnet, daraus entwickelt sich natürlich eine besondere Verantwortlichkeit.

Träger der Substitution am Harburger Berg ist der Ev.-luth. Kirchenkreis. Wie viel Kirche steckte in Ihrer Arbeit?
Der diakonische Gedanke, Menschen in ihrer Not beizustehen und ihnen die Hilfe zukommen zu lassen, die sie brauchen, ist für mich gelebte Nächstenliebe und damit gelebte Kirche. Für unsere Gesellschaft und unsere Kirche ist meiner Meinung nach von besonderer Bedeutung, solche Angebote aufrechtzuerhalten und anzubieten.

Wenn dieses Interview erscheint, werden Sie bereits im Ruhestand sein. Welches Fazit ziehen Sie nach viereinhalb Jahrzehnten Arbeitsleben?
Ich hoffe, dass es auch andere so sehen: Dass ich der richtige Mann mit den richtigen Fähigkeiten an den richtigen Orten war, speziell am Harburger Berg. Ich glaube, das war einfach genau mein Ding: selbständig und verantwortlich zu arbeiten, in einem motivierten und multiprofessionellen Team. Ich wünsche mir, dass die Substitution weiterhin ihren Platz in der Hilfe für suchtkranke Menschen in Celle behält.